Es ist Mittwoch, der 8. März 2023. Wir Biathleten des Internats Hohenschwangau stehen im Keller des Internats vor einem grauen Waffenschrank, hier sind unsere Gewehre ordnungsgemäß verwahrt. Die Waffen werden verschlossen in Tragetaschen aus dem Schrank genommen. Kurz kontrollieren wir die benötigten Begleitpapiere und nehmen die Munition in abgeschlossenen Metallkassetten mit. Auf dem Weg zum Bus begegnen wir zwei Internatskollegen. Sie klatschen ab. „Haut rein!“, lautet die gut gelaunte Aufforderung der Freunde. Sie werden das Wochenende bei ihren Familien verbringen, ausschlafen, Freunde treffen, ins Kino gehen.
Für uns Biathleten wird das Wochenende anders ablaufen, ein Einzel- und zwei Sprintrennen stehen auf dem Programm. Die Trainingsgruppe Nesselwang bricht zum letzten Wettkampfwochenende der Saison auf, um mit drei Rennen an drei Tagen die Rennserie des Deutschlandpokals zu beenden.
Jeder Tag ist genau durchgetaktet, vom Frühsport um 7:15 Uhr bis zur Bettruhe um 21:30 Uhr. Dem Sport wird fast alles untergeordnet – doch was treibt uns Sportler an?
Aufbruch zum Wettkampf
Auf dem Hof des Internats steht der Teambus des Allgäuer Skiverbandes (ASV) schon bereit. Drumherum stapeln sich bunte Sporttaschen, Skisäcke und Athletenrucksäcke. Die Trainer Chris und Elena verladen zusammen mit uns Sportlern alles in den Bus. Trotz der Routine wird es eng. Es wird geschoben und umgeschichtet, bis auch die kleinste Lücke im Bus genutzt ist. Die Gewehre kommen zum Schluss, sie sind ein empfindliches Gut.
Unsere Gruppe besteht an diesem Wochenende aus sieben Sportlern, die in drei verschiedenen Altersklassen antreten, und den beiden Trainern. Außerdem ist unser “Wachsler“ dabei. Er heißt Konrad und sorgt dafür, dass die Ski bei allen Bedingungen gut laufen. Bei sonnigem Wetter geht es los Richtung „Großer Arber“ im Bayerischen Wald, gute vier Stunden Fahrt liegen vor uns.
Der Trainingstag
Nach Frühsport und Frühstück fährt unsere Gruppe am Donnerstag zum Hohenzollernstadion, alle sind gut gelaunt. Chris erfüllt uns sogar einige Musikwünsche während der Fahrt.
Der Wettkampfort liegt direkt am Großen Arbersee und gehört zur Gemeinde Bayerisch Eisenstein. Das Gelände wird von Bäumen eingerahmt, ist von einem breiten Loipennetz durchzogen und hat einen Kleinkaliberschießstand mit gegenüberliegenden Tribünen. Außerdem gibt es verschiedene Gebäude mit Umkleiden, Sanitäranlagen und Aufenthaltsbereichen. Die Strecken sind anspruchsvoll, es gibt lange, kräftezehrende Anstiege.
Als wir ankommen, sind bereits verschiedene Teambusse aus anderen Regionen Deutschlands vor Ort. An den Logos und Schriftzügen ist zu erkennen, aus welchen Bundesländern sie stammen – Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen. Die Loipen sind frisch gespurt. Athleten sind in Gruppen oder einzeln beim Skaten auf der Strecke und am Schießstand. Die Sonne scheint und es liegt reichlich Schnee – hier ist noch Winter. Das ASV-Team bekommt einen Container zugewiesen, dort kann die Ausrüstung während der nächsten Tage aufbewahrt werden. Wir schleppen alles zum Container. Man trifft Biathleten aus anderen Verbänden, tauscht sich aus und natürlich wird die Konkurrenz genau beäugt.
Als erstes teilen sich die Trainer auf. Chris der Schießtrainer, sucht freie Schießstände und stellt das Spektiv auf, um das Trefferbild seiner Schützlinge beurteilen zu können. Er gibt genaue Rückmeldungen an die einzelnen Sportler, damit das Gewehr perfekt auf den Schießstand und die Windsituation eingestellt ist. Nach dem Anschießen geht Elena mit uns Athleten auf die Loipe. Sie kennt ihre Sportler, jede und jeder bekommt genaue Anweisungen. Auch das Streckenprofil wird analysiert. Es folgt eine komplexe Trainingseinheit aus Laufen und Schießen, dabei werden unterschiedlich lange Runden gelaufen. Nach knapp drei Stunden verlässt unsere Gruppe das Gelände Richtung Hotel. Alle sind zufrieden mit dem heutigen Training.
Die Unterkunft liegt 20 Minuten vom Stadion entfernt im Ort Lam. Hier ist unser Team in einem Gasthof untergebracht. Die Betten sind bequem, die Bäder modern, das Essen schmeckt und wir bekommen auf Wunsch Nachschlag – das ist nicht überall so! Nach dem Mittagessen in der urigen Gaststube haben wir Sportler Freizeit. Es wird gechillt, einige spielen Schach oder sehen fern. Außerdem gibt es Handyzeit – abends werden die Geräte wieder von den Trainern eingesammelt. Vor dem Abendessen ist eine kurze Laufeinheit angesetzt, um die Muskulatur zu lockern, im Anschluss steht die tägliche Teambesprechung mit den Trainern an. Danach wird die Waffe gereinigt und wieder verschlossen. Um 21:30 ist Bettruhe.
Der erste Wettkampftag – die Spannung steigt!
Heute steht ein Sprintrennen an. Wie an jedem Wettkampftag bedeutet dies: 7:00 Uhr aufstehen, 7:15 Uhr lockerer Frühsport, 7:45 Uhr Frühstück, 8:30 Uhr Abfahrt zum Stadion.
Die Anspannung ist jetzt deutlich spürbar, auf der Fahrt ist es ruhig im Bus. Bei der Ankunft am Stadion herrscht bereits reges Treiben. Helfer, Trainer, Sportler und Zuschauer bevölkern das Gelände. Trotz schlechter Wetterprognosen sind die Bedingungen für den Wettkampf der Mädchen gut, am Schießstand gibt es kaum Wind, der Himmel ist locker bewölkt.
Konrad ist schon seit einigen Stunden mit den Skiern beschäftigt, er sucht die richtigen Schliffe und Strukturen und trägt verschiedene Wachse auf. Elena testet die Ski auf der Loipe, gibt Rückmeldung und dann wird entschieden, welche Skier am besten laufen. Wir Sportler sind guter Dinge, wenn Konrad wachst, haben wir immer “Raketen“ unter den Füßen!
Nun wird am Schießstand angeschossen. Jeder Verband erhält zwei Schießstände. Chris und Elena geben letzte Anweisungen, dann müssen die Mädchen zum Start. Hanna und Elin machen sich auf den Weg. Es wird einzeln gestartet und zweimal geschossen, einmal liegend und einmal stehend. Ein kurzer Wettkampf, hier darf man es nicht langsam angehen, wenn man ein gutes Ergebnis möchte. Wir Jungs haben noch Zeit und verteilen uns auf der Strecke, wo wir die Mädels anfeuern, besonders an den steilen Passagen des Rennens. Hier stehen auch Trainer mit Ersatzstöcken, Eltern und Zuschauer. Wann immer Athleten in Sichtweise kommen, wird es laut an der Strecke, aufmunternde Rufe mischen sich mit Traineranweisungen, manche Zuschauer haben Tröten oder Glocken dabei, um die Sportler anzufeuern.
Wir Jungs starten in unterschiedlichen Altersklassen, zuerst müssen Johannes und Moritz ran, wir Älteren sind im Anschluss dran. Vor dem Start wärmen wir uns gründlich auf und bekommen Transponder zur Zeitmessung angelegt. Jetzt muss alles bereit sein, die Magazine aufmunitioniert am Gewehr, außerdem einzelne Patronen für den Fall, dass eine Patrone am Schießstand herausrepetiert wird. Auch der Schießriemen am Oberarm muss sitzen. Bedauerlicherweise frischt der Wind auf und kommt in Böen, jetzt sind die Bedingungen am Schießstand nicht mehr ideal. Der Himmel trübt sich zunehmend ein. Doch bevor der Schnee kommt, sind alle Wettkämpfe beendet.
Die Ergebnisse des Teams sind unterschiedlich, manche übertreffen die Erwartungen, andere haben Probleme am Schießstand oder auf der Loipe. Die Leistungen werden nun analysiert und entsprechend dem Leistungsstand eingeordnet. Nach diversen krankheitsbedingten Ausfällen ist Platz acht für mich in der Altersklasse U18/19 schon ein großer Erfolg. Der zweite Platz in der Altersklasse U17 für Björn sorgt für Freude im ganzen Team, er verteidigt damit seinen zweiten Rang in der Gesamtwertung.
Ein spätes Mittagessen im Gasthof bringt wieder Leben in die Gruppe. Der Nachmittag gehört der Regeneration. Später wird ausgelaufen, gedehnt und der kommende Tag besprochen. Einige machen Hausaufgaben und Lernen auf den Zimmern.
Der zweite Wettkampftag – die Belastungen fordern ihren Tribut
Ein weiteres Sprintrennen steht auf dem Programm. Der Samstag bringt Schneefall – eine Herausforderung für Konrad, da schwer einzuschätzen ist, wie sich die Bedingungen auf der Loipe in den nächsten Stunden ändern. Es gilt erneut den idealen Ski zu finden und das richtige Wachs zu verwenden. Im Container wird auf dem Wachstisch unter Hochdruck gearbeitet, der Vater eines Athleten hilft beim Abziehen der Skier. Beide tragen Masken, die Schweißperlen stehen ihnen auf der Stirn.
Draußen sind die Trainer damit beschäftigt, uns Sportler auf den neuen Wettkampf einzustimmen, letzte Gespräche werden geführt, es braucht Motivation. Wir Sportler machen uns warm, nehmen isotonische Getränke oder Powerriegel zu uns, jeder hat seinen eigenen Ablauf. Elena achtet auf warme Kleidung bis kurz vor dem Start, da ist sie streng. Ohne Mütze und Umziehklamotten braucht man nicht im Training oder zum Wettkampf zu erscheinen – das wissen wir alle!
Dann startet das Rennen, die Loipe hält. Der böige Wind verhindert bei einigen Athleten ein besseres Ergebnis am Schießstand. Die Ski laufen Spitze – Konrad hat wieder ganze Arbeit geleistet. Insgesamt ist die Gruppe zufrieden.
Am Nachmittag klagt Christian über Schienbeinschmerzen und auch wir anderen spüren die körperliche Belastung der beiden Wettkämpfe. Ich fühle jeden Muskel in meinem Körper und frage mich, wie ich den letzten Wettkampftag überstehen soll. Dehnübungen, Magnesium und Proteinshakes dienen der Regeneration ebenso wie lockeres Laufen am Nachmittag. An diesem Tag ist um 21:00 Uhr das Licht aus – Schlaf ist die beste Regeneration!
Letzter Wettkampftag der Saison – nochmal alles geben!
Auch der letzte Wettkampftag bringt Neuschnee, er ist nass und schwer. Heute steht das längste Rennen auf dem Programm, ein Massenstart mit zweimal liegend und zweimal stehend schießen. Rechtzeitig zum Start hört es jedoch auf zu schneien, die Tribünen sind locker gefüllt und der Stadionsprecher verbreitet gute Laune und Spannung mit Musik und Infos von der Strecke.
Die Belastung des dritten Wettkampftages ist hoch. Eines der Mädchen übergibt sich auf der Strecke und wird aus dem Rennen genommen, eine andere liegt nach dem Zieleinlauf minutenlang auf dem Boden und wird schließlich von zwei Sanitätern hinausbegleitet. Das ASV-Team ist nicht von Ausfällen betroffen, zum Glück geht es allen gut.
Beim letzten Start des Tages stehen 30 Athleten meiner Altersklasse in drei Reihen hintereinander. Der Starter zählt runter, schießt und dann setzen wir uns alle auf einmal in Bewegung. Schnell laufen wir aus dem Stadion hinaus und den ersten Anstieg hoch, dort um die Kehre und dann geht es an der Straße entlang den Hang hinunter. Es ist eng und ich versuche nicht vom Stock eines anderen Athleten getroffen zu werden oder in der Kehre irgendwie in Bedrängnis zu geraten. Die Müdigkeit vom Vortag ist vergessen, Adrenalin und die Konkurrenten direkt neben mir treiben mich an. Auf der ersten Runde bleibt die Gruppe dicht beieinander und man muss höllisch aufpassen, um niemandem auf den Ski zu steigen. Nach dem ersten Schießen zieht sich das Feld dann auseinander. In der Strafrunde kreisen einige Sportler. An der Strecke wird eifrig angefeuert, jetzt heißt es, sich das Rennen gut einzuteilen und doch noch ein letztes Mal in dieser Saison alles aus sich herauszuholen. Am langen Anstieg stehen meine Teamkollegen, sie brüllen „Michi, auf geht´s! Zieh durch! Hopp, hopp!“. Christian läuft neben mir her und brüllt mich an. Ich schaffe es, mich von meinem Hintermann zu lösen. Sein Trainer brüllt „Lauf wieder ran!“ Ich höre seinen schweren Atem und versuche meine Lauffrequenz noch einmal zu steigern. Wenn ich jetzt noch ein Stück wegkomme, hat er keinen Windschatten in der nächsten Abfahrt. Am Ende des Bergs steht Elena. „Auf geht´s Michi zieh drüber, volle Konzentration am Schießstand!“, schreit sie in meine Richtung. Das spornt an. In der Abfahrt heißt es kurz durchatmen, dann der Einlauf in den Schießstand. Der Puls kommt langsam etwas runter, ich liege gut im Rennen. Jetzt nur nicht anfangen zu denken! „Sauber abarbeiten“, sagt Chris immer. Es kommen noch vier harte Runden.
Nach knapp vierzig Minuten kommen die ersten Athleten an den letzten Anstieg. Betreuer und Teamkollegen brüllen aus vollem Leib und laufen neben uns her. Noch 200 Meter bis ins Ziel, jetzt wird die letzte Kraft mobilisiert und in der Eins-Eins-Technik Richtung Ziellinie gesprintet. Der Stadionsprecher kommentiert das Geschehen aufgeregt, dann sind die ersten im Ziel. Ich schaffe eine gute Platzierung im vorderen Mittelfeld. Ausgepumpt und schwer atmend liegen wir im Schnee. Nach und nach kommen alle Athleten ins Ziel, manche liegen minutenlang am Boden, bis sie es schaffen, aufzustehen und den Bereich zu verlassen.
Jetzt wird ein letztes Mal die Waffe kontrolliert. Alle Magazine müssen leer sein, die einzelnen Patronen werden von der Waffe genommen, sie kommen dem veranstaltenden Verein zugute. Es darf keine Munition am Gewehr verbleiben. Erst dann verlassen wir Biathleten den Platz, wir klatschen uns gegenseitig ab – geschafft!
Der große Traum vom Weltcup!
Nach der Siegerehrung für das letzte Rennen werden noch die Gesamtsieger und Platzierten des Deutschlandpokals geehrt. Alle Gruppen bleiben da und feiern die Erstplatzierten. Björn hat das letzte Rennen der Saison gewonnen und hält Platz zwei in der Gesamtwertung – ein riesiger Erfolg! Im Aufenthaltsraum stärkt man sich, dort läuft die Übertragung des Biathlonweltcups. Große Namen laufen durchs Bild, Johannes Boe, Benedikt Doll – die haben es in den ganz großen Sport geschafft!
Dann heißt es packen und die Heimreise antreten. Doch zuvor werden Fotos gemacht – das Team des ASV versammelt sich mit den Trainern vor dem Mannschaftsbus. Auf den Bildern sind müde, aber strahlende Gesichter zu sehen. Die Saison ist geschafft, sie hatte ihre Höhen und Tiefen und nicht alle aus dem Team konnten ihre gesetzten Ziele erreichen, andere wiederum sind über sich hinausgewachsen. Es besteht kein Zweifel, wir werden alle weiter machen, die Gruppe ist während der Saison noch stärker zusammengewachsen. Ab Mitte April startet das Sommertraining. Biathleten werden im Sommer gemacht, heißt es. Und der Einsatz und die Entbehrungen sind es wert, denn der große Traum vom Weltcupeinsatz lebt!
Startbereich im Hohenzollern Skistadion
Michael Palicka, während des Rennens